Das 100 % für den Zweck-Problem
Bei einem Seminar war es wieder soweit: Mit wurde eine große Organisation genannt, bei der 100 % der Spenden direkt für den beworbenen Zweck verwendet werden. Kein Spenden-Euro würde für die Spendenwerbung verwendet. Auf meine Rückfrage, wie denn die ganzen Materialien und die arbeitenden Menschen bezahlt würden, hieße es, dass dafür Gelder aus anderen Töpfen zur Verfügung stünden.
Puh. Nun entwickelte sich eine engagierte Diskussion darüber, ob man in diesem Fall wirklich von 100 % sprechen könne, denn die Gelder aus dem dem anderen Topf könnten ja – so sie nicht für Fundraising ausgegeben würden – auch für den beworbenen Zweck eingesetzt werden. Ich hielt diese Rechnung aus mehreren Gründen für problematisch und an diesem Tag kamen wir in der Gruppe auf keine gemeinsame Position. Aber da das Thema der “100 Prozent aller Spenden kommen dem beworbenen Zweck zugute” immer wieder für Diskussionen in der Fundraising-Szene sorgt, hier einige grundsätzliche Gedanken dazu.
Keine NPO ohne Verwaltungskosten (Overhead)
Kritik an NPOs, dass sie zu hohe oder überhaupt Verwaltungskosten haben, führt dazu, dass manche NPOs offensiv damit werben, dass 100 Prozent der Spenden dem gemeinnützigen Zweck zugeführt werden. Die Behauptung, dass 100 Prozent der Spenden in den beworbenen Zweck fließen, verdeckt immer, dass die angefallenen Kosten aus einem anderen Topf oder von einem Dritten getragen werden. Es ist ein unredliches Versprechen, das die Mehrzahl der transparent agierenden NPOs in ein schlechtes Licht stellt.
Verwaltungskosten sind nicht definiert
Es gibt keine eindeutige Definition, was unter Verwaltungskosten zu verstehen ist und jeder Vergleich zwischen NPOs ist sehr schwierig. Für die eine NPO sind die Verwaltungskosten die Ausgaben, die für das Fundraising anfallen. Bei anderen NPOs sind Verwaltungskosten zusätzlich das, was für die interne Verwaltung (Leitungsanteile, Buchführung, Gehaltsabrechnung etc.) aufgewendet wird.
NPOs ohne Verwaltung sind unprofessionell
Eine NPO, in der alle alles machen, wird nicht auf Dauer funktionieren. Sozialarbeiter*innen haben keine Buchhaltung gelernt, Biolog*innen sind nicht unbedingt gut im Schreiben von Anträgen etc. Arbeitsteilung ist ein Merkmal professioneller NPOs.
Alle Mitarbeitenden sind wichtig
Nicht nur die Menschen, die direkt an inhaltlichen Zweck der NPO arbeiten, dürfen gesehen werden. Ohne Hausmeisterdienste, Küchenhilfen, Sekretariatsmitarbeitende, Fundraiser*innen etc. funktionieren NPOs nicht. Sie pauschal als Verwaltungskosten oder Overhead abzuqualifizieren ist fehl am Platz. Patient*innen im Krankenhaus werden nicht nur durch die Operation gesund, sondern genauso durch die Pflege danach, das kräftigende Essen aus der Küche und die von Keimen gereinigte Umgebung.
Exkurs: Smartphone zum Materialpreis?
Wenn man den 100-Prozent-Ansatz auf die freie Wirtschaft übertragen würde, hieße das, dass ein Unternehmen seine Produkte so kalkulieren müsste, dass die Kunden ausschließlich …
- Materialkosten und
- Fertigungskosten
zahlen müssten. Doch da fehlen noch die Ausgaben für …
- Personalbuchhaltung,
- Entwicklung,
- Vertrieb,
- Maschinenpark,
- Gebäude,
- etc.
In dieser Rechnung sind noch kein Gewinn oder Überschuss für Investitionen enthalten. Von welchem Geld sollte ein Unternehmen denn überhaupt in der Lage sein, die notwendige Infrastruktur für die Erstellung eines Produktes vorzuhalten, wenn jeder Käufer bei jedem Produkt diese Rechnung aufmachen würde?
Wasser auf die Mühlen vieler Spender*innen und Stiftungen
Ja, es ist so: Spender*innen geben am liebsten so, dass sie das Gefühl haben, ihre Spenden kommen direkt und ungeschmälert beim beworbenen Zweck an. Die Spende soll maximal wirken. Am liebsten gäben sie sie direkt den Wohnungslosen, der begabten Jungmusikerin oder finanzierten die Sense für den Landschaftspflege-Trupp.
Bei Stiftungen ist es leider nicht besser: Bei vielen Stiftungen oder anderen Fördermittelgebenden liest man, dass Verwaltungskosten nur in geringem Umfang oder überhaupt nicht gefördert werden. Gleiches gilt für kalkulatorische oder anteilige Gemeinkosten. Großes Mantra: Alles muss zu 100 Prozent bei den Klient*innen oder dem Förderzweck ankommen. Ironischerweise haben diese Stiftungen und Fördermittelgebende selbst auch Verwaltungskosten – seien es nur Bankgebühren – und können nicht all ihre z. B. Stiftungserträge ausgeben.
Wenn eine Organisation nun mit einem 100-%-Versprechen arbeitet, ist das Wasser auf die Mühlen all dieser Fördernden. Die Ironie dabei ist, dass die gleiche Organisation sich möglicherweise beim nächsten Förderantrag an eine Stiftung beschwert, dass sie ihre – natürlich vorhandenen – Gemeinkosten nicht mit anbringen kann. Denn eine große Kritik an vielen Stiftungen und Fördermittelgebenden ist, dass sie keine Personal- oder Verwaltungskostenanteile übernehmen und rein Sachkosten oder direkt anfallende Projektkosten tragen wollen.
Im Hinterkopf all dieser Gedanken steckt noch immer das Ideal der rein ehrenamtlich arbeitenden Organisation, bei der jeder Briefumschlag wiederverwendet wird und das Geld durch Kuchenverkäufe reinkommt (Mehl, Strom etc. zahlt niemand).
Gemeinnützige Arbeit ist professionell und arbeitsteilig
Gemeinnützige NPOs müssen professionell arbeiten, das heißt arbeitsteilig. Nur bezahlen möchte das niemand. Es herrscht die Vorstellung, dass NPOs schon irgendwo das Geld herbekommen, um die Gemeinkosten tragen zu können.
Doch woher soll das Geld kommen? Aus öffentlichen Zuschüssen kann selten ein Überschuss erwirtschaftet werden (und darf es auch meist nicht). Und Zuschüsse bedeuten immer, dass Eigenmittel mitgebracht werden müssen. Leistungsentgelte, Pflegesätze etc. sind fast immer so eng kalkuliert, dass sie nur knapp die Kosten in der Realität decken. Überschüsse sind nicht mehr, geschweige denn in nennenswertem Umfang, erzielbar.
Es bleibt als mögliche Quelle für Gemeinkosten die Spenderschaft. Doch warum sollen Spender*innen, die zweckfreie Spenden geben, für die Gemeinkosten einer Organisation aufkommen, damit Spender*innen zweckgebundener Spenden oder Stiftungen ihr 100-Prozent-Dogma halten können? Es bleiben zuletzt noch mögliche Mitgliedsbeiträge oder sonstige Einnahmen, zum Beispiel aus Kapitalerträgen, Vermietungen etc. Wenn eine NPO weder zahlende Mitglieder noch Kapitalerträge hat, dann hat sie wohl Pech.
Antrags- und Förderrichtlinien bei Stiftungen und anderen fördernden Stellen, ohne berücksichtigte Verwaltungskostenanteile, ignorieren die Professionalität von NPOs. Denn es wird getan, als ob die Gemeinkosten nichts zum Erfolg der gemeinnützigen Arbeit beitragen würden. Doch zu welcher Arbeit kämen zum Beispiel Sozialarbeiter*innen noch, wenn sie neben ihrer regulären Arbeitszeit
- Gehälter berechnen,
- die Telefonzentrale besetzen,
- Förderanträgen stellen und Abrechnungen bearbeiten,
- Öffentlichkeitsarbeit betreiben,
- Verhandlungen mit Zuschussgebern führen
- und sich um Softwarewartung kümmern sollten?
Zu professioneller Arbeit in NPOs gehören die Allgemeinkosten, sowohl bei der inhaltlichen Arbeit als auch bei der Spendenwerbung. Mitarbeitende an der Pforte, in der Technik, der Buchhaltung, der Öffentlichkeitsarbeit, dem Fundraising etc. tragen auch zum Erfolg der gemeinnützigen Arbeit bei. Das muss sich auch in Förderrichtlinien und in der Spendenkommunikation widerspiegeln. Und das müssen wir Fundraiser*innen im Kontakt mit Gebenden, gleichgültig ob Privatpersonen oder Förderstiftungen, immer und immer wieder thematisieren.
Organisationen, die damit werben, dass 100 Prozent der Spenden direkt dem Zweck zuguten kommen, handeln aus meiner Sicht unsolidarisch gegenüber allen anderen Organisationen, die ihre Einnahmen und Ausgaben transparent darstellen.
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