Buchtipp: Digitale Mündigkeit
Als das Buch “Digitale Mündigkeit” von Leena Simon auf Mastodon vorgestellt wurde, lasen einige Leute zuerst “Digitale Müdigkeit” – und das trifft das Grundempfinden bei diesem Thema gar nicht so schlecht. Wir sind im Alltag oft erschlagen von all den sozialen Medien, den Apps am Handy, umständlichen Freigabeprozeduren beim Online-Banking, dem Wechsel zwischen all den Softwareprodukten Zuhause und im Büro, langen und immer komplexeren Kennwortlisten, Datenschutzerklärungen, selbstfahrenden Autos, KI und Cookie-Abfragen etc.
Leena Simon definiert digitale Mündigkeit als “die Bereitschaft und das Engagement, sich die Kompetenzen anzueignen, die man braucht, um für die eigenen Handlungen im digitalen Raum Verantwortung zu tragen.” Es geht also nicht um umfangreiches technisches Wissen, sondern um eine Grundhaltung. Als studierte Philosophin schlägt sie den Bogen von Kants Kritik der Aufklärung in die Gegenwart. Leena Simon verfügt über einen weiten fachlichen und praktischen Hintergrund in der Welt der Digitalisierung. Als langjährige Aktive im Verein Digitalcourage (vormals: FoeBuD e.V.) setzt sie sich für Grundrechte und Datenschutz ein. Beruflich ist sie als Referentin unterwegs und berät u. a. Frauen, die von Cyber-Stalking in Beziehungen betroffen sind.
Das Buch ist ein grandioser Rundumblick in unsere ständig komplexere digitale Welt mit all den Risiken und Nebenwirkungen. Was hat es beispielsweise mit dem digitalen Bargeld auf sich? Warum ist anonymes Bezahlen Bürgerrecht? Weswegen ist der Satz “Ich habe ja nichts zu verbergen.” schlichtweg Unfug? Warum erfordern uns übervorteilende AGBs stundenlange Lektüre? Welche Freiheit bietet uns freie Software? Aus welchem Grund sollten wir kostenlose Dienste erst einmal kritisch hinterfragen? Wie sieht es mit der Ethik bei selbstfahrenden Autos aus?
Wer das Buch liest, ist danach auf jeden Fall schlauer, weiß mehr über die digitale Welt in ihren Facetten. Doch damit beginnt das Problem für uns Lesende. Denn wo anfangen? Digitale Mündigkeit beginnt etwas mit dem Gefühl der Erschöpfung. Doch Leena Simon macht Mut. Ihr Buch ist keine wütende Streitschrift mit Publikumsbeschimpfung, sondern durchwegs Mut machend geschrieben. Sie kennt all die kleinen und größeren Bequemlichkeiten von uns Lesenden und hat Nachsicht mit all denen, die noch nicht die volle digitale Mündigkeit erreicht haben. Doch sie lässt nicht locker, von ihren Leser*innen das Minimum an Anstrengung einzufordern, um auf den Weg der Mündigkeit zu kommen.
Gerade auch Aktive und Verantwortliche in Non-Profit-Organisationen sollten das Buch lesen, denn die Digitalisierung macht vor dem gemeinnützigen Sektor nicht Halt. Und es sind nicht nur Menschenrechtsorganisationen, die sich vor den datensammelnden und trackenden Tools wie ZOOM, Facebook, Microsoft-Office-Cloud etc. hüten sollten. Alle NPOs, die nicht ihre sämtlichen internen Protokolle, Kampagnenpläne und Gesprächsnotizen öffentlich für staatliche Stellen im In- oder Ausland zur Verfügung stellen wollen, sollten ihren digitalen Fußabdruck sehr genau ansehen. Wer z. B. Menschen hilft, die von Wohnungslosigkeit, psychischer Erkrankungen, Schwangerschaftsabbrüchen, Wohnheimaufenthalten etc. betroffen sind, sollte seine digitale Verantwortung nicht mit dem Einhalten der als lästig empfundenen DSGVO (Datenschutzgrundverordnung) als erledigt ansehen. Das ist nur ein erster Schritt.
So gerne wir Fundraiser*innen auch jeder Spende eine Adresse zuordnen möchten, so wichtig ist es aber auch, dass Menschen anonym spenden oder sich informieren können. Denn eines zeigt uns der Blick in die Nachrichten seit Jahren: Politische Systeme können sich schnell ändern. Und auch in Deutschland kann plötzlich die Spende an eine politisch aktive Organisationen oder der Zugriff auf ihre Website von heute auf Morgen von einer übereifrigen Staatsanwaltschaft kriminalisiert werden. Auch anonyme Accounts auf sozialen Plattformen müssen möglich sein, wenn man auch sonst nicht möchte, dass alle Hobbies, Krankheiten, sexuelle Vorlieben, religiöse und sonstige Überzeugungen, Spleens etc. beim Arbeitgeber, der Krankenkasse, im Freudeskreis oder den Ex-Partner*innen bekannt sind.
“Digitale Mündigkeit” ist ein Buch, das etwas Zeit zum Lesen braucht und mit umfangreichen Literatur- und Netzhinweisen abschließt. Es informiert, ermutigt, entsetzt und motiviert zugleich. Eine uneingeschränkte Leseempfehlung gibt es daher von mir – aber nur, wenn es nicht auf dem Stapel ungelesener Bücher landet!
Das Buch gibt es überall im Buchhandel zu bestellen oder direkt beim Verlag für 32,- Euro.
Simon, Leena: Digitale Mündigkeit. Wie wir mit einer neuen Haltung die Welt retten können. Verlag Art D'Ammeublement. Bielefeld. 2023. ISBN 978-3934636-49-1.